Frühförderung auch für Flüchtlingskinder


am 19.5.2016 über das Projekt im Haus Mignon:


Das Haus Mignon besteht seit 40 Jahren in Hamburg und fördert Kleinkinder, die aufgrund von Frühgeburt, Krankheit, Behinderung oder traumatischen Erlebnissen in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sind.
Bei der hier angebotenen Frühförderung handelt es sich um heilpädagogische Hilfen zur Entwicklungsförderung, zum Beispiel durch basale Sinnespflege, heilpädagogisches Spiel, ,Ergotherapie, sensorische Integration, Physiotherapie, Psychomotorik, Logopädie sowie Musiktherapie. Möglich wird das, sobald eine medizinische Eingangsdiagnostik bei einem betroffenen Kind einen längerfristigen Hilfebedarf festgestellt hat. Die Kosten der Behandlung übernimmt unabhängig vom Einkommen der Eltern das Sozialamt, da es sich hier um eine sogenannte Eingliederungshilfe im Rahmen des Sozialgesetzbuches XII handelt. Sie soll behinderten oder von Behinderung bedrohten Menschen helfen, die Folgen der Behinderung zu mildern und sich in die Gesellschaft einzugliedern.

Frühförderung für alle, die es brauchen?
In Deutschland hat jedes Kind, das behindert oder von Behinderung bedroht ist, einen gesetzlichen Anspruch auf eine solche Frühförderung ab der Geburt. Somit hat jedes Kind die Chance, diese Behinderung durch gezielte Förderung und Behandlung abzumildern oder auszugleichen.

 

Jedes Kind? Nein.

Bei Kindern, die mit ihren Familien nach Deutschland geflüchtet sind, ist die Lage deutlich komplizierter. Da es bei der Eingliederungshilfe um die Integration von Betroffenen in die Gesellschaft geht, erhalten geflüchtete Menschen entsprechende Leistungen nur, wenn sie eine gute Bleibeperspektive haben, denn nur dann erscheint aus Sicht des Gesetzgebers eine Integration sinnvoll. Und in den ersten 15 Monaten erhalten Geflüchtete nur bei akuter Erkrankung und Schmerzzuständen die erforderliche ärztliche oder zahnärztliche Behandlung. Zwar sind in Ausnahmefällen zusätzliche Leistungen möglich, die aufwändig beantragt werden müssen. Doch die Bewilligung dauert Monate. Falls sie überhaupt kommt.

„Frühförderung muss aber so früh wie möglichStefanie Tapella, Ruth Enste beginnen“, sagt Ruth Enste vom Haus Mignon. „Jeder Tag ist hier wichtig.“ Die Leiterin der interdisziplinären Frühförderstelle weiß, wovon sie spricht. Sie und ihr Team haben seit über 30 Jahren viel Erfahrung mit Frühförderung von Kindern. 21 Kollegen aus den unterschiedlichsten Fachbereichen, wie Heilpädagogen, Ergotherapeuten, Physiotherapeuten, Sozialpädagogen und Psychologen, betreuen 200 Kinder pro Woche, die etwa Trisomie 21 oder das Williams-Beuren-Syndrom haben, aufgrund von Sauerstoffmangel während der Geburt unter Spastiken leiden oder durch eine psychische Erkrankung der Eltern in Mitleidenschaft gezogen werden. „In Deutschland erhalten jährlich ca. 120.000 Kinder Frühförderung. Natürlich gibt es auch bei Flüchtlingskindern entsprechende Bedarfe, auch wenn hier keine genauen Zahlen bekannt sind“, weiß Ruth Enste.


Besondere Situation von Flüchtlingsfamilien
Der Kontakt zu den Kindern und ihren Familien entsteht über Kinderklinken oder Kinderärzte. Das ist auch bei Flüchtlingskindern nicht anders. Und doch ist die Situation eine ganz andere. „In den Herkunftsländern ist Behinderung oft ein großer Makel. Diese hier dokumentieren zu lassen, ist für die Eltern teilweise sehr schwer“, weiß Stefanie Tapella, Vorstandsvorsitzende der Benita Quadflieg Stiftung, die derzeit ausschließlich Projekte zugunsten des Haus Mignon fördert. „Gleichzeitig sind die Familien sehr traumatisiert und Behörden gegenüber ziemlich misstrauisch“, ergänzt Ruth Enste. Eine spezielle Förderung für ihr Kind zu beantragen, ist für viele zunächst ein nur schwer vorstellbarer Schritt. Deshalb gehen die Therapeuten in die Flüchtlingseinrichtungen, versuchen mit Gesten, Englisch oder z.B. arabischen Flyern zu erklären, was Frühförderung bedeutet und leisten kann. Um diese zu erhalten, müssen fünf Formulare ausgefüllt werden, oftmals ist ein Widerspruch gegen die Ablehnung nötig, und viel Geduld. Und Zeit, die die Kinder oft nicht haben. Denn je später die Frühförderung einsetzt, desto später können die Kinder angeregt oder die Entwicklung neuer Hirnbahnen gefördert werden. Je später die Frühförderung beginnt, desto mehr verfestigt sich die Beeinträchtigung.

Spenden verkürzen die Wartezeit
„Deshalb sind Spendengelder für uns so wichtig“, sagt Stefanie Tapella. „Durch Spenden können wir es ermöglichen, dass Flüchtlingskinder gefördert werden, bevor ihr Antrag irgendwann nach Monaten genehmigt wird.“ Die Spenden aus der NDR-Aktion Hand in Hand werden dafür eingesetzt, ein oder vielleicht sogar zwei Kinder entsprechend früher zu fördern.
Zurzeit steht Haus Mignon mit drei Kindern aus Afghanistan und Syrien in Kontakt, bei denen ein Frühförderbedarf diagnostiziert ist und deren Anträge zur Bewilligung bei den Behörden liegen. Eines ist schwer herzkrank, eines ist ein frühgeborener Zwilling, das dritte erlitt unter der Geburt einen schweren Sauerstoffmangel. Dieses Kind erhält von seiner Therapeutin viel Hautkontakt sowie
MasMassage als Frühförderungsagen an den Händen und Füßen, begleitet von rhythmischen Liedern und Sprüchen.  Immer und immer wieder. „Die wochenlangen Wiederholungen und der begleitende Rhythmus sind sehr wichtig“, sagt Ruth Enste. Das regt beim Kind die Hirnentwicklung an und schafft Vertrauen, auch bei den Eltern, die an den Terminen teilnehmen. Die Therapeuten zeigen den Eltern, wie sie selbst mit dem Kind arbeiten können, legen den Fokus auf das, was das Kind schon kann, und weisen auf Fortschritte hin. „Diese Fortschritte gemeinsam mit den Eltern zu sehen, ist eine wunderbare Bestätigung unserer Arbeit“, so Ruth Enste.

Frühförderung in der Flüchtlingsunterkunft
Die Frühförderung findet im Lebensumfeld des Kindes statt, dort wo es zuhause ist. Bei Flüchtlingskindern ist das meist in der Flüchtlingsunterkunft, hinter einem Paravan oder einer Stellwand, die wenigstens ein bisschen Privatsphäre schaffen. Eines Frühförderkorbder wichtigsten Utensilien ist immer dabei: der Frühförderkorb, mit Brummkreisel, einem Softball, einem weiches Tuch, einem buntes Bilderbuch. Diese und ähnliche Spielangebote machen den Kindern Spaß und sind unerlässlich für einen Therapieerfolg. Und dabei ist völlig unerheblich, ob das Kind deutsch ist oder aus einem anderen Land kommt.

Kein gleiches Recht für alle
„Wir sind der Auffassung, dass im Hinblick auf die UN-Behinderten- und die UN-Kinderrechtskonvention Frühförderung für alle betroffenen Kinder vom Sozialamt finanziert werden müsste – egal ob deutsche Staatsbürger oder Flüchtlingskind“, sagen Ruth Enste und Stefanie Tapella. So lange das aber nicht der Fall ist, sind Einrichtungen wie das Haus Mignon auf Spendengelder angewiesen, um betroffenen Flüchtlingskindern (frühzeitig) helfen zu können. „Vielen Dank an die Spender der NDR-Aktion, die hier einen ersten wichtigen Schritt ermöglichen!“